Scheidungsfolgen: Ist die Verminderung meines Einkommens zur Schmälerung der Unterhaltszahlungen zulässig?
04.08.2020
Die Rechtsprechung im Familienrecht ist geprägt von gesellschaftlichem Wandel und soziodemographischer Entwicklung weshalb sie sich in einer stetigen Bewegung befindet. Mehr oder weniger konstant bleibt eine relativ hohe Scheidungsrate in der Schweiz. Im Jahr 2019 wurden 38'974 neue Ehen geschlossen, während insgesamt 16'885 Ehen geschieden wurden. Die Scheidungsrate beträgt somit ca. 40 Prozent.
Aufgrund dieser Zahlen ist nicht erstaunlich, dass Scheidungsprozesse einen erheblichen Anteil aller von den Zivilgerichten zu bearbeitenden Verfahren ausmachen. Die Scheidung der Ehe bedeutet nebst der gefühlsbasierten Trennung von einem Partner auch die wirtschaftliche Auflösung einer Lebensgemeinschaft. Diese wirtschaftliche Liquidation ist für die betroffenen Ehegatten aus verständlichen Gründen nicht immer vollumfänglich überblickbar, da eine Scheidung per se schon ein krisenhaftes Lebensereignis darstellt und zusätzlich aus rechtlicher Sicht komplex erscheinen kann. Je nach Situation der einzelnen Ehegatten und ihrer gelebten Lebensstellung während der Ehe ist die Scheidung aus ökonomischer Sicht mit beträchtlichen negativen Folgen verbunden. Hatten die Ehegatten vor der Trennung eine Rollen- beziehungsweise Lastenverteilung vereinbart, ist diese Aufgabenteilung beziehungsweise das gewählte Konzept für eine gewisse Zeit möglichst weiterzuführen.
Bei der Berechnung familienrechtlicher Unterhaltsansprüche sind unterschiedliche Interessen gegeneinander abzuwägen und verschiedene Faktoren zu berücksichtigen. Beide Ehegatten haben gleichermassen Anspruch auf Fortführung der bisherigen Lebenshaltung bzw. bei beschränkten finanziellen Mitteln auf eine gleichwertige Lebensführung. Grundlage familienrechtlicher Unterhaltspflichten sind die Bedürftigkeit des Unterhaltsempfängers und die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners. Letztere wird aus der Differenz zwischen Einkommen und Bedarf berechnet. Dabei wird in der Regel von tatsächlich Vorhandenem ausgegangen. Es gibt aber Situationen, bei welchen die Berücksichtigung des realen Einkommens als nicht ganz zufriedenstellend erscheint. Deshalb können Situationen, in denen sich das Einkommen eines Ehegatten vermindert, zusätzliche Schwierigkeiten mit sich bringen. Insbesondere bei wirtschaftlich engen Verhältnissen sind an die Ausnützung der Erwerbskraft des unterhaltspflichtigen Elternteils besonders hohe Anforderungen zu stellen.
Aus diesem Grund hat die bundesgerichtliche Praxis das Instrument des hypothetischen Einkommens eingeführt. Dieses beantwortet konkret die Frage, ob es jemandem zuzumuten ist, ein höheres als sein derzeitiges Einkommen zu erwirtschaften. Diese Zumutbarkeit wird vom Gericht nach Ermessen und nicht anhand von fixierten Parametern geprüft. Schöpft ein Ehegatte seine Erwerbskraft nicht voll aus, kann ihm also ein hypothetisches Einkommen angerechnet werden, sofern dieses zu erreichen ihm zumutbar und möglich ist. Dabei handelt es sich um zwei Voraussetzungen, die kumulativ erfüllt sein müssen. Damit ein Einkommen überhaupt oder höheres Einkommen als das tatsächlich erzielte, angerechnet werden kann, genügt es nicht, dass der betroffenen Partei weitere Anstrengungen zugemutet werden können. Vielmehr muss es auch möglich sein, aufgrund dieser Anstrengungen ein höheres Einkommen zu erzielen (BGE 137 III 118, E. 2.3).
Ob ein hypothetisches Einkommen in der angenommenen Höhe zugemutet werden kann, ist eine Rechtsfrage. Ob dessen Erzielung auch als tatsächlich möglich erscheint, ist hingegen eine Tatfrage, die durch entsprechende Feststellung oder durch die allgemeine Lebenserfahrung beantwortet wird. Dazu gehören insbesondere die berufliche Qualifikation, das Alter und der Gesundheitszustand sowie die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Bei einer Verminderung des Einkommens spielt es zudem eine Rolle, ob diese tatsächlich unumkehrbar ist. Denn dann darf ein hypothetisches Einkommen gemäss der jüngsten Rechtsprechung nur angerechnet werden, wenn der betroffene Ehegatte seinen Verdienst in Schädigungsabsicht geschmälert hat. Beim Unterhaltsanspruch von minderjährigen Kindern gelten besonders hohe Anforderungen an die Ausnützung der Erwerbskraft. Das heisst für den unterhaltspflichtigen Ehegatten konkret, dass er sein bisheriges Einkommen ohne begründeten Anlass nicht einfach willkürlich vermindern darf.
Haben auch Sie Fragen zum Thema Trennung/Scheidung und den damit verbundenen Unterhaltsansprüchen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir beraten Sie gerne individuell und auf Ihre persönliche Situation angepasst.
Kontakt: Marie-Caroline Messerli, Rechtsanwältin